Auf freiem Felde

Der Schnee lag kalt und weiß auf freiem Felde.
Ein Hase und seine Frau suchten Futter. Die Pfoten froren. Es war ein mühsamer Weg, und der Wind pfiff über die Fläche. Die Ausbeute war kümmerlich. Man mußte erst den Schnee fortkratzen, um etwas Essen zu finden. Die Pfoten wurden so leicht wund dabei. Man mußte sie dazwischen immer wieder ablecken. Auch war die Frau des Hasen leidend. Ein Bein war ihr zerschossen worden. Sie humpelte hilflos und gebrechlich über den Schnee.
»Es ist recht schwer, wenn man so behindert ist«, klagte sie. »Wie wird es erst im Frühling werden! Ich kann mit dem kranken Bein doch keine Kinder warten.«
Der Hase tröstete sie.
»Es wird schon gehen«, sagte er und leckte ihr beruhigend die Ohren. »Du brauchst erst eine Kur an der Quelle. Sie ist so kalkhaltig und hat schon vielen geholfen.« »Ach, diese schrecklichen Jagden!« seufzte die Häsin. »Wenn sie einen wenigstens gleich töten wollten! Aber jagen darf jeder, und so schießen sie einen krank. Die Menschen sind offenbar immer hungrig, daß sie einen so verfolgen.« »Das war früher. Früher war es auch ein Kampf gegen wilde Tiere«, sagte der Hase. »Jetzt ist es gefahrlos, und darum ist es ein Vergnügen. Es ist sogar ein vornehmes Vergnügen. So haben es wenigstens die getauft, die sich selbst vornehm nennen. Vermutlich, weil andre sie nicht vornehm nennen würden. Da tun sie es lieber gleich selbst.« Die Häsin war empört. »Töten ist doch kein Vergnügen! Sogar Wölfe reißen aus Hunger, nicht aus Lust am Töten.« »Es sind eben keine Wölfe, sondern Menschen – die von sich selbst so getauften vornehmen«, sagte der Hase. »Sie genießen die Natur nur, wenn sie ihr ins brechende Auge sehen. Das ist ihre Freude an der Schöpfung. Aber du wirst durch die Kur wieder ganz gesund werden. Die Quelle ist ein ganz berühmtes Bad.« »Es ist unfaßlich«, sagte die Häsin und verspeiste nachdenklich etwas vertrocknetes Moos.
»Es gibt bei den vornehmen Leuten noch viel vornehmere Dinge«, fuhr der Hase fort. »Sie zähmen sich die Tiere erst, um sie dann zu Tode zu hetzen. Das ist das Allervornehmste!«
»Aber das ist ja Mittelalter! Wir leben doch in der Neuzeit?« rief die Häsin entrüstet. Sie war historisch sehr gebildet. Die Hasen haben eine lange und traurige Geschichte, die sorgsam überliefert wird.
»Wir sind noch sehr tief im Mittelalter drin«, sagte der Hase bedrückt und kummervoll. »Aber die neue Zeit wird bald kommen. Es stehen starke Geister auf, die das Mittelalter nicht fürchten. Es sind keine armen Hasen, denn sie führen scharfe Waffen. Der Gott der Schöpfung hat sie ihnen gegeben, damit sie den Wehrlosen helfen. Man spricht davon im Wald und auf freiem Felde.«
»Es ist gewiß an der Zeit«, sagte die Häsin seufzend, »aber erst muß ich meine Kur brauchen.«
Oben in der Luft kreisten zwei Raubvögel.
»Du«, sagte der Habicht zu seiner Frau, »da unten ist ein kranker Hase. Den wollen wir fressen. Ich habe Hunger. Der andere ist gesund. Der würde uns entwischen.« Er stieß pfeilschnell auf die Häsin nieder. Der Hase sprang entsetzt hinter ein Gebüsch.
Aber der Habicht konnte seine Beute nicht entführen. Ein Schuß traf ihn. Er breitete die Schwingen auseinnder. Sein Blut färbte den Schnee.
»Jetzt ist meine Frau gerettet!« jubelte der Hase. »Das ist gewiß einer von den starken Geistern, die helfen kommen.« Es war kein starker Geist.
Die Häsin richtete sich auf, um fortzueilen. Da traf sie ein Kolbenschlag auf den Kopf. Sie reckte den verstümmelten Körper. Die Augen überzogen sich mit einem matten Schein und erloschen. Der vornehme Mann hatte seine Freude an der Natur.
Im verschneiten Gebüsch saß frierend und jammernd ein kleines Geschöpf mit struppigem Fell. Hoch in der Luft kreiste ein einsamer Vogel. Die Blutspuren auf dem Schnee bildeten seltsame Zeichen. Die Zeit ist sehr nah, wo man sie lesen lernen wird. Und erlöse uns von dem Übel!
Manfred Kyber

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