Hohe Blumen, steile Gräser


Hohe Blumen, steile Gräser
Zittern leis im frühlingstrunknem Duft.
Dämmernd schimmern Apfelblüten
In der hohen Abendluft.
Golden kriecht die letzte Sonne
Durch das wirre Baumgeäst
Küsst zur Nacht die kleinen Blüthen,
Küsst das kleine Finkennest.
* * *
In weissen Anemonenkissen lag
Ein graugranitner Stein.
Hier sassen manchmal wir bei Tag,
Die Hände ein in ein.
Und vor uns lag
In brauner stiller Haide
Ein blanker See,
Und wie in heller Freude
Spielten mit ihm
Die Wolken aus luftiger Höh'.
Sie zogen, wenn der Abend naht,
In weite, weite Ferne,
Und bauten Schlösser Thürm und Stadt
Wie folgten wir so gerne.
Und wenn sich dann der Abend müde streckt
Auf seinem weiten braunen Haideland,
Und wenn die Dämmrung dann das Lager deckt
Bis an den fernen, dunstgen Hügelrand,
Dann zittert lockend durch die weiche Luft
Bald mächtig schwellend in der Abendluft
Zu hohem Lied, zu vollem Schall
Der Sang der Nachtigall.
* * *
Langsam strich ich durch den alten Garten,
Wo bemooste Apfelbäume starrten
Mit den krummen Knorrenarmen
In die hohe Abendluft,
Wo im erdgen Bodenduft
Kleine weiße Glockenblumen
Auf den Gruß der Sonne warten.
* * *
Von dem Berge, durch die niedern Föhren
Stieg ich langsam, Abenddämmerschein
Grauer Winter war's, hoch über Nebelwogen,
Die von unten aus dem Thal herzogen,
Tönte rauh der Wildgans grelles Schrein.
Hinter winterkahlen Lindenhecken
Lag als wollten sie es schützend decken,
Still das weisse, rotbedachte Haus.
Träumend staunen in den alten Garten, -
Wollen sie ein Wunder stumm erwarten? -
Fenster, heimlich blinkende, hinaus.
Müde flüchtend aus den lauten Wogen
Hat es sehnend heimwärts mich gezogen.
Und das Leben, das ich gerne liess,
Tausch ich nun mit trautem Paradies.
Aus: DIR. Gedichte von Heinrich Vogeler, Worpswede. Erschienen im Insel Verlage zu Leipzig 1921 (4. Auflage)
Heinrich Vogeler, geboren am 12. Dezember 1872 in Bremen; gestorben am 14. Juni 1942 im Kolchos Budjonny bei Kornejewka, Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialist. Der vielseitig begabte Künstler ist besonders durch seine Werke aus der Jugendstilzeit bekannt geworden. Er gehört zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede, sein Wohnhaus, der Barkenhoff, wurde Anfang der 1900er Jahre zum Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung.

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