HERKUNFT


HERKUNFT
Mein Vater fuhr in den Steinbruch zur Arbeit,
sie spellten den härtesten Granit Europas, Maschinen bissen sich die Zähne an ihm aus. Vor und nach der Arbeit war mein Vater ein Bauer auf drei Hektar mageren Bodens, und sein Sommertag war lang wie ein Sommertag. Der eine Vater und der andere Vater glichen einander, wie der nackte, glitzernde Granit sanfter, bröckliger Ackererde gleicht, beide jedoch waren wortkarg und hart und - als ich fähig war, es zu sehen - voll freundlicher Güte. Später, viel später war mein Vater ein alter Mann, den ich achtete wie keinen anderen.
Auch meine Mutter war zwiefach: gehetzte Magd für Vieh und Feld und Haus und Hof, und ein Tausend - Seiten - Buch mit Geschichten, fernen, fremden, unseren; die Geschichten rissen die Zeiten auf, und die Zeit war ein Fluß, ahnbar Quelle und Mündung, und Träume hatten tiefe Wurzeln.
Von unserer Mutter habe ich ein Foto, da ist sie fünfzehnjährig. Sie ist schmal und blaß, und nach dem ersten Kind, das gleich wieder starb, und nachdem mein Vater in den Krieg gezogen war, wurde sie schwer krank, sie mußte eine Art blechernen Brustbeutel mit Eis auf dem Herzen tragen, und Kinder sollte sie keine mehr haben dürfen. Sie gebar noch sechs Kinder und half drei Waisen - und später noch zwei Halbwaisen, deren Vater im Krieg, im zweiten, war - bei uns aufwachsen.
Die Arbeit wurde nicht weniger mit den Jahren, und die Sorgen wurden größer, als der Mann arbeitslos war, als der Sohn im Gestapogefängnis saß, als der Krieg begann und als er endete - und sie, die nie gesund war, erlebte Enkel und Enkelkinder um sich, bevor ihr in ihren letzten Jahren der Grüne Star die Welt - ihre kleine, enge große Welt - aus den Augen pickte. Ich kenne viele Geschichten aus dieser kleinen - großen Mutterwelt, Steinchen zu einem oder aus einem Bild, aber am nächsten ist mir das Bild aus ihren späten Jahren: wie der fünfundachtzigjährige Mann -
mein Vater - , dem der Steinstaub die Lunge fast zur Gänze füllte, die um drei Jahre jüngere, fast blinde alte Frau, meine Mutter, einen kleinen Weg führte: Hand in Hand.
Im Jahre ihrer Diamantenen Hochzeit.
Jurij Brězan
( 1916 - 2006 )
Herkunft und Standort
Weinmond und Meißner Land
Literarische Streifzüge durch Sachsen
Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig, 1989
Bild: Otto Dix
( 1891 - 1969 )

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