Sonnenblumen-Legende


Nachdem der liebe Gott die Welt geschaffen hatte mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen, ging er noch einmal durch seinen schönen Paradiesgarten und freute sich, weil alles so gut war. Er sah wie Adam und Eva mit all den kleinen und großen Tieren spielten, hörten wie die Vögel zwitscherten und sangen und erfreute sich an den bunten Blumen zwischen den Gräsern, die in den schönsten Farben leuchteten und süß oder herb dufteten, um ihren großen Schöpfer zu loben. Ganz abseits am Wegesrand jedoch fand er ein hochgeschossenes Kraut mit großen grünen Blättern. Es war höher gewachsen als die meisten anderen Pflanzen, aber es hielt seinen Kopf gesenkt, war traurig und weinte still vor sich hin. Erschrocken blieb der Herr stehen und fragte, warum es so weinen müsse.
„Ach lieber Gott“, schluchzte der lange Stengel, “ich bin doch zu überhaupt gar nichts nütze. Ich habe keine farbige Blüte wie die Rose oder das kleine Vergissmeinnicht, und deshalb kommen auch keine Bienen und Schmetterlinge zu Besuch, um von meinem Nektar zu trinken. Ich trage auch keine saftigen Früchte wie der Kirschbaum, der Weinstock oder der Vogelbeerbusch; keiner der kleinen gefiederten Sänger kommt, um von mir zu naschen. Ach Herr, es ist unsagbar traurig, dass ich für niemand da sein kann. Niemand braucht mich.....“
„ Ich hab gedacht“, meinte da der Herr, “weil du so schön groß und schlank bist und all die kleinen Gräser und Kräuter überragst, wärest du glücklich. Die Gänseblümchen und der Klatschmohn, die Tulpen, die roten Radieschen und die dicken Kürbisse- alle bewundern dich. Ich war schon in Sorge, du würdest hochmütig auf all die niedrigen Pflanzen herabschauen!“
„O nein, Herr“, entgegnete der lange Stengel und bewegte ganz sacht seine grünen Blätter, „bloß groß sein und auf andere herunterschauen - das ist nichts. Ich möchte viel lieber klein sein und ein wenig blühen und leuchten. Bitte, mach mich klein und hell. Und wenn es dir nichts ausmacht, lass mich auch ein wenig duften, damit die Bienen und die Schmetterlinge und die dicken Hummeln zu mir kommen und von meinem Blütenstaub naschen. Oder – lass mich wohlschmeckende Früchte tragen, damit ich etwas anzubieten habe, wenn die Vögel mich besuchen....“
„Aber hast du denn gar keine Angst“, fragte der Herr, „dass du dann deine ganze Schönheit hergeben musst, dass dich die Tiere zerzausen und berauben, und dass du eines Tages vertrocknest und verdorrst?“
„O nein, Herr“, ereiferte sich die schlanke, hochgewachsene Pflanze, “es muss doch schön sein, etwas zu haben, was man hergeben kann. Was man verschenken kann. Wenn man sich den anderen Geschöpfen hingeben kann - das ist es doch - das wäre es doch - ganz echt zu leben...“
„Wenn das so ist“, erwiderte der Herr erfreut, „ dann hast du den Sinn allen Lebens erkannt. Und weil du den Sinn des Lebens erkannt hast, sollst du nun eine goldene Krone tragen, leuchtend wie die Sonne. Du sollst selbst zu einer kleinen Sonne werden, und in deinen Samenkörbchen sollst du viel Blütenstaub und Nektar bereithalten für die Bienen und die Schmetterlinge. Tausend kleine Kernchen sollen in deinem Korb reifen, und die Vögel sollen dich besuchen und sich von deinen Früchten nähren. Und immer neue Blüten sollst du treiben, du goldener Sonnenschein, und ich will dir auch einen besonders schönen Namen geben. Sonnenblume sollst du heißen!“
„Danke, Herr“, rief da die junge Sonnenblume, “ich bin ja so glücklich!“
Sie öffnete ihre erste goldene Blüte und streckte sie strahlend der Sonne entgegen.
Autor unbekannt

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