HORRORGESCHICHTE
Gibt es nicht!
Sander erklomm mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend die frisch gewienerte Treppe in dem noch immer nach Bauschaum riechenden Neubau. Er hatte es als Pharmakologiestudent aus einer sozialen Unterschicht nicht immer leicht gehabt in den letzten Semestern. Kurzer Hand hatte er einen Job als Babysitter angenommen. Ohne jede Ahnung von der Materie. Und dann auch noch bei den Geißens. Nicht zu verwechseln mit dem
Herr Geiß war Direktor des Friedrich Schiller Gymnasiums in der Allerseelenstraße nördlich vom Stadtzentrum und seine Frau an selbiger Lehranstalt Dozentin in der Oberstufe für Altgriechisch und Hebräisch. Sie hatten den Ruf erzkonservative Zeitgenossen zu sein.
Das alleine hätte Sander ja noch nicht einmal so sehr gestört, nur was in der Stadt hinter vorgehaltener Hand über Frau Geiß getuschelt wurde, jagte ihm defuse Furcht ein.
Aber sie zahlten 25 die Stunde. Also hoppi galoppi.
Er klingelte einmal zaghaft. Auf der Fussmatte stand: Kehre um, wenn du böses willst!
Sander schüttelte den Kopf. Er hatte es mit Spinnern zu tun.
Das Schloss ratschte und knackte ein halbes Dutzend mal. Dann wurde ein schwerer Riegel zur Seite geschoben. Diese Leute verbarrikadierten sich regelrecht. Eine ca 45 jährige hochgewachsene Frau öffnete ohne zu lächeln. ,,Frau....."
,,Sander Bennet, 24, mäßiger Student, nicht vorbestraft, keine Drogenvergangenheit.
Ihr Facebookprofil ist auch sauber. Kommen sie herein! Mein Mann ist noch mit der Abendtoilette beschäftigt. Wir gehen ins Konzert. Händel! Sagt ihnen sicher nichts."
,,Die Wassermusik!"Sander war fast ein bisschen stolz. ,,Chapeau! Ich werde sie jetzt meiner Tochter vorstellen. Sie ist ein sehr anspruchsvolles und eigenes Kind. Mit ihren sechseinviertel Jahren schon überaus verständig. Folgen Sie mir!"
Sie öffnete eine Tür am Ende eines pieksauberen Flurs.
Da hockte auf dem Boden, inmitten von mit allerlei Symbolen und Zeichnungen versehenen Papierblättern, ein kleines Geschöpf in einem scheinbar das Licht schluckenden schwarzen Kleidchen. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und war ganz in sich selbst vertieft. ,,Lena. Möchtest du unseren Gast nicht begrüßen?"
Sie bewegte sich nicht. Es war als schlafe sie im sitzen. ,,Lena! Was habe ich dir zum Thema Gastfreundschaft gesagt? Das ist Sander Bennet. Er wird heute Abend bis Punkt 22.15.Uhr für dich und dieses Apartement verantwortlich sein. Ich verlasse mich auf ihn."
Das Mädchen drehte sich mit quälender Lamgsamkeit zu ihnen um und zeigte das Gesicht eines Kindes, das sich nichts,rein gar nichts zu Weihnachten wünschte. ,,Guten Tag Herr Bennet." Dann wandte sie sich wieder ab.
,,Ich bin der Sander. Du kannst auch Tube zu mir sagen. So heiße ich bei den Skatern im Bürgerpark." ,,Sander " entschied die Kleine.
Frau Geiß erhob zackig ihre linke Hand. Sie hielt ein silberfarbenes Döschen.: ,, Das allerwichtigste aber, was sie auf gar keinen Fall vergessen dürfen, ist, ihr alle zwei Stunden eine von diesen Pillen zu geben! Kann ich mich da auf sie verlassen? Es ist von alleräußerster Wichtigkeit!"
,,Selbstverständlich Frau Geiß. Alles was zu ihrer Zufriedenheit beiträgt."Er ertappte sich dabei, daß er ihren gestelzten Jargon nachzuahmen versuchte.
,,Wir sind hier fertig." Bemerkte Frau Geiß trocken.
Damit drehte sie sich um ,, Guten Abend, Herr Bennet." Und schritt elegant aus dem Zimmer. Es war fast als schwebe sie.
Sander musste das ganze erstmal für sich ordnen.
Weil ihm nichts anderes einfiel setzte er sich im Schneidersitz ca zwei Meter von Lena entfernt auf den frisch gesaugten Teppichboden.
STILLE STILLE
Er sah auf seine Armbanduhr. Waren wirklich schon zwei Stunden vergangen?
Lena rührte sich immer noch nicht. Sander trat ans Bücherregal. Rilke, Simmel, Shakespeare auf Englisch. Das Mädchen war sechs!
Aber da!" Kasperle rettet Zuckerland."
Sander fischte das dünne Buch hervor und setzte sich neben Lena. ,,Kennst du das?"
,,Hab es nie gelesen " ,,Wie lange kannst du denn schon lesen?",,Seit dem 22.4.2018."
In Sanders Kopf ratterte es. Er dachte an die Pille, die er ihr alle zwei Stunden geben sollte.
NEIN! Entschieden nein! Solche Stoffe wie Ritalin und Amantadin waren Gift für Kinderseelen. Er schlug stattdessen das Buch auf und begann: ,, Es war einmal, zwischen dem Schlaraffenland und den lebenden Wäldern von ......" ,,ZUCKERLAND GIBT ES NICHT!" Sander tat als wäre nichts und blätterte die Seite um. Er stutzte. Sie war leer.
Wo eigentlich ein buntes Bild von Zuckerland sein sollte, war nichts zu sehen außer weißes Papier. ,,UND DAS SCHLARAFFENLAND GIBT ES AUCH NICHT!" Sander blätterte aus einem ganz miesen Gefühl heraus zurück. Eine leere Seite. ,,UND KASPERLE GIBT ES AUCH NICHT!" Sander sah aufs Cover. Der lachende, rotnasige Geselle war verschwunden.
Er warf das Buch in hohen Bogen von sich weg.
Nur weg! Und verlor die Fassung! ,,Deine Mutter hat sich mit dunklen Mächten eingelassen!"
Lena sprang ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen auf die Beine. Ihre Stimme klang hohl wie durch einen Trichter.
,,GIBT ES NICHT! GIBT ES NICHT! GIBT ES NICHT!" Sander fiel auf das es plötzlich totenstill war. Kein Auto- und Fluglärm mehr.
Kein Vogelgezwitscher. Kein Hund bellte.
Er registrierte das seine Armbanduhr fehlte. -Die verdammte Pille!-
AMERIKA GIBT ES NICHT! AFRIKA GIBT ES NICHT! AUSTRALIEN GIBT ES NICHT! "
Sander aktivierte mit zitternden Händen sein Smartphone.
Tot!
Kein Empfang! Keine Apps!
,,DIE MEERE GIBT ES NICHT! DIE POLE GIBT ES NICHT!"
Sander hörte ein dumpfes, apokalyptisches Grollen in der Ferne.
Er schrie!!!!Schrie wie ein hilfloses sechsjähriges Kind!!!! Krallte sich in seiner Panik an Lenas schwarzem Kleid fest. Sie ließ sich nicht beruhigen. Geriet in eine Art Trancezustand.
Es war wie ein schrecklicher, verheerender Anfall. ,,GIBT ES NICHT!"......
...,,GIBT ES NICHT! GIBT ES NICHT!GIBT ES NICHT!.........
Da war ein Geräusch. Laut. Laut und vertraut.
Sein Herzschlag. Er blickte sich um. Und sah nichts. DAS NICHTS. Er war allein. Allein im Universum. Oder halt. Selbst das Universum gab es nicht mehr. Die Schöpfung gab es einfach nicht mehr. Alles war fort.
Da spührte er in seiner Verwirrung eine Präsenz. So fremd und doch irgendwie vertraut.
Er drehte sich im Nichts herum und sah in ein strahlendes, androgynes Gesicht. Ein Gesicht ohne richtige Züge aber doch existenziell schön.
Ein gleißender Körper. Ein geschlechtsloses Energiewesen. Eine nondimensionale Kreatur.
Er hatte nie etwas schöneres, etwas so wunderbares Gesehen.
....,, Bist du Gott?"
Es dauerte Milliarden Jahre bis er eine Antwort bekam. Für ihn waren es Sekunden.
,,Nein ." dachte die Gestalt. Und Sander verstand die Gedanken. ,,Ich bin der Tod.
Gott ist als letztes verschwunden. Aber ich, die Nichtexistenz, werde immer da sein. Dich lasse ich am Leben, denn auch ich empfinde das Resultat meines Wirkens als so etwas wie Einsamkeit." Das Wesen das es immer geben würde küßte zärtlich den Mund des ehemaligen Pharmakologiestudenten.
Dieser eine ephische Kuß, das einzige was noch zählte, überdauerte Äonen, Äonen und Äonen......
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Stefan Längner
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