Leise atmend


Leise atmend, halb entschlummert
liegt das Kind im Bettchen klein:
Plötzlich, durch das offne Fenster
schaut der Abendstern herein.
Und nach ihm mit beiden Händen
laut aufweinend langt das Kind:
"Mutter, Mutter! hol mir diesen
schönen Stern herab geschwind!"
"Dummheit!" ruft der Vater zornig
hinter einem Zeitungsblatt,
"Was der Fratz von dritthalb Jahren
für verrückte Launen hat!
Denk mal: Dreißig Millionen
Meilen weg und ein Planet,
der zweihundertvierundzwanzig
Tage um die Sonne geht!"
Doch die Mutter tröstet leise:
"Schlaf, mein Engel! Diese Nacht
hol' ich dir den Stern vom Himmel,
der dir so viel Freude macht;
morgen früh, hier auf dem Bette
findest du den Edelstein!" –
Und das Kind in Tränen lächelnd
schläft am Mutterherzen ein.
Hermann von Gilm zu Rosenegg (1812 –1864)
Gemälde: Albert Anker(1831–1910), Junge Mutter bei Kerzenlicht ihr schlafendes Kind betrachtend, 1875.

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