DER FRAUENJÄGER
DER FRAUENJÄGER, DER SICH IN SCHWEDEN NICHT WOHL FÜHLTE.
In Schweden ist Kurt Tucholsky vor allem als kritischer deutscher Schriftsteller und Journalist bekannt, der seine Heimat früh verließ. Aber das ist kaum die ganze Wahrheit. Im Essay „Blick auf Schloss Gripsholm“ wirft Markus Huss ein neues Licht auf einen notorisch untreuen Mann und sein Schreiben
Um Kurt Tucholsky (1890–1935) wird gewöhnlich gesagt, dass er einer der meistgelesenen Publizisten der deutschen Weimarer Republik war, ein scharfer Kritiker des deutschen Militarismus und des aufkommenden Nationalsozialismus, ein revolutionärer Pazifist, der seine Heimat früh verließ. Ab 1924 wohnhaft in Paris, ab 1929 in Schweden, zunächst auf dem Land bei Mariefred, dann in Hindås östlich von Göteborg. 1935 brachte er sich um. Damals hatte er selbst lange nicht veröffentlicht, kaum noch nach dem Roman „Gripsholms slott“ im Jahr 1931.
Diese Geschichte eines einsamen deutschen Exilschriftstellers in schwedischer Verkleidung passt zu deutschen Touristen, die jeden Sommer nach Mariefred pilgern, vor dem Mauerfall ergänzt durch den Besuch von DDR-Koryphäen, die den einsamen Kurt für ihre Zwecke beschlagnahmten. Und auch der schwedische PEN, der seinen Tucholsky-Preis jährlich an einen „verfolgten, bedrohten oder im Exil lebenden Schriftsteller oder Journalisten“ vergibt. Wie Pressehistoriker: Angesichts eines radikalen, furchtlosen Journalisten, verkörperte demokratische dritte Staatsmacht, Typ rechtsrote Moberg oder Kulturarbeiter
Davon musste Markus Huss ausgehen, wenn er nun ein perspektivreicheres und vielleicht widersprüchlicheres Porträt einer scheinbar beachteten, aber immer noch missverstandenen Autorschaft präsentieren will, zumindest den Teil davon, der sich in Schweden abspielt Dabei scheinen sich deutsche Literaturhistoriker, anders als schwedische, in Mariefred zu ambitionierten Seminaren versammelt zu haben, deren Berichte zu Hus' Quellen gehören. Huss genügt es, an der idealisierten Oberfläche zu kratzen, damit etwas anderes zum Vorschein kommt. Ein diskreditierter Schriftsteller, aber kaum allein, im Gegenteil umgeben von weiblichen Ermutigern – eine davon, Lisa Matthias – „nach seinem Wunsch war ich alles, was eine Frau für einen Mann sein kann: Mutter, Wiege, Gefährtin“ – genau wie Prinzessin Lydia in "Gripsholms Schloss".
Aber Tucholsky ist ein notorisch untreuer Frauenjäger. „In stiller Nacht, zwischen monogamen Laken / siehst du, was deinem Leben fehlt“, schreibt er in dem Gedicht „Ideal und Wirklichkeit“. Auch das Etikett schwedisches Exil erscheint nicht sonderlich umfassend, nachdem es die Wanderschaft des Internationalisten Tucholsky beschrieben hat: sämtliche Postanschriften des Zeitungskorrespondenten in Frankreich, Österreich und England, sowie Reisen in Deutschland bis 1931, bis ihm die deutsche und seine Staatsbürgerschaft aberkannt wurde 1933 wurden Bücher verbrannt. Dann musste der Staatenlose mit Berufsverbot in Schweden bleiben. "Selbstmord?" Es wurde in Frage gestellt. Wir müssen uns mit der Feststellung begnügen, dass Tucholsky 1935 im Alter von 45 Jahren im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg an einer Schlafmittelvergiftung starb.
Huss liest "Schloss Gripsholm" entgegen den Angaben des Autors zunächst biografisch. Der Erzähler Peter alias Kurt und seine Geliebte, die Prinzessin, ein deutsches Urlaubspaar, das in Schweden reist, suchen Schloss Gripsholm auf, wo sich der Erzähler schnell in einem Brunnen neben den Kerkern des Schlosses versteckt, um Geist zu spielen und eine Gruppe deutscher Touristen zu erschrecken. Mit Hilfe dieser kleinen, scherzhaft anmutenden Szene umkreist Huss gekonnt das problematische Verhältnis der Autorin zu Deutschland und den Deutschen und weist auch auf die Unterstützung der Frauen hin – „Lydia wo bist du, hilf mir hoch!“ Das Gespenstergeheul in den Tiefen des Brunnens breitet sich wie ein Echo aus wie ein Schwarm Stimmen, so viele wie Tucholskys Pseudonyme.
In der linksradikalen deutschen Wochenzeitschrift Die Weltbühne, in der Tucholsky überwiegend publizierte, durfte nicht der Anschein erweckt werden, als habe der Redakteur alles selbst geschrieben. Stattdessen verteilte er seine Texte auf mehrere Signaturen: Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser und Kurt Tucholsky. Ein Masken- und Rollenspiel, das sich sowohl mit behaupten als auch hinter sich verstecken kann. Die spannenden Episoden in "Schloss Gripsholm" über die Entlassung eines kleinen deutschen Mädchens aus einer nahe gelegenen faschistisch geführten Kinderkolonie könnten sogar von Tycholskys Pseudonym Old Shatterhand geschrieben sein. Die plötzliche Aufregung des Erzählers in der Dunkelheit des Brunnens während der Begegnung mit dem deutschen Publikum – „You should’t scare people“ – erscheint als Warnung vor der Rezeption von „Deutschland, Deutschland über alles“, die er (in Korrespondenz mit John Heartfield ) schrieb und fotografierte jenen Gripsholmer Sommer 1929. Es sollte sich herausstellen, dass niemand mehr etwas von dem kompromisslosen Neinsager hören wollte.
Ein Eingang zum „Schloss Gripsholm“ liefert das Thema des Romans, das Autokennzeichen IA-47407 der Prinzessin alias Lisa Matthias. Doch sie selbst war es, die schließlich das Geheimnis hinter der kryptischen Zahlen- und Buchstabenkombination in dem Buch „Ich war Tucholskys Lottchen“ (1962) lüftete, um ihre Rolle in dem berühmten Roman zu beanspruchen, die von der Autorin bestritten wurde. Das Kennzeichen fehlt in den schwedischen Übersetzungen (Gunnar Gunnarsons 1957 und Birgit Hård af Segerstads 1987). Warum verschwinden Widmungen und Mottos so oft aus Büchern? Oft in Verbindung mit Übersetzungen, aber auch in Neuauflagen. Es ist untauglich!
Leidenschaftlicher als die vielen Frauengeschichten scheint Tucholsky sein Interesse an der deutschen Sprache zu sein, aber das sind doch verwandte Zustände. „Die Anziehungskraft, die die Erzählerin zu Lydia empfindet, hängt mit ihrer Art zu sprechen zusammen“, schreibt Huss. Dem sei hinzugefügt, dass dasselbe auch für Claire im Jugendroman „Rheinsberg“ gilt. Ein Bilderbuch für Verliebte“ (1912). In beiden Liebesromanen entpuppen sich die Frauen als interessante sprachliche Abweichler. Der Blick auf Gripsholms Schloss weitet sich, wenn Huss den Roman als Sprachkritik und Sprachkunstwerk bezeichnet. Lydias ausdrucksstarkes Flachdeutsch setzt sich gegen leicht erkauftes, provinzielles Heimatgeplänkel durch, und die gekonnt imitierende Erzählerin demonstriert die Fähigkeit eines radikalen Gesellschaftskritikers, eine falsche, zunehmend „marschierende“ Sprache preisgeben zu können. Diese Vorliebe für das gesprochene, oft dramatisierte Wort, verbunden mit der Forderung nach Strenge und einem nie endenden kritischen Blick, wird zu einem Charakteristikum von Tucholskys eigenem, von seiner norddeutschen Erziehung geprägten Stil.
Interessanterweise erwähnt Hus Victor Klemperers philologische Kartierung der perversen Sprache der Nazis. „Die Sprache des Dritten Reiches“ zeichnet sich durch eine solche Anhäufung hochfliegender Fremdwörter, formalisierter Vagheit und Militärjargon aus, die Tucholsky bereits in den 1920er Jahren ironisiert. Dafür bietet die Artikelauswahl in „Deutschland, unser Deutschland“ (ausgewählt und mit einem Vorwort von Jan Stolpe und übersetzt von Ulrika Wallenström und Ola & Carsten Palmaer, 2016) reichlich relevantes Anschauungsmaterial. Wie der Hang der zeitgenössischen deutschen Rhetorik zu allem „Deutschen“, „Deutsch“, „Deutsch“ über alles. Aber man muss die Zunge im Mund behalten, denn sonst könnte die Veröffentlichung im Rahmen des städtischen Autorenprojekts von Strängnäs als genau das „Heimatprojekt“ erscheinen, für das Tucholsky ein so gutes Auge hat. Aber Hus tut es.
Die Deutsche Literaturtagung in Mariefred 1994 – und Huss mit ihr – scheint zu glauben, dass Tucholsky im Begriff war, eine neue, fiktive Schrift zu beginnen – und damit das unglückliche „Deutschland, Deutschland über alles“ hinter sich lässt, und nimmt das Sommermärchen „ Schloss Gripsholm" als Einkommen dafür. Dagegen spricht der ironische Auftakt mit dem quasi dokumentarischen Briefwechsel mit dem Verleger in „Schloss Gripsholm“, zumal er eine Variation des mörderisch-surrealistischen Einwands gegen die Romanform als solche enthält, seine endlosen Variationen über „Die Marquise ging aus um 5" - in Tucholskys Jahrgang: "Die Gräfin hielt ihr Kleid aus silbernem Lamé hoch, würdigte den Grafen nicht mit einem Blick und stürzte die Schlosstreppe hinunter." Weiter gibt es eine weitere humorvolle Variation zeitgenössischer surrealistischer Tricks, die darauf abzielen, mit der Kunst des Romans zu driften: "So spielten wir das Buchspiel: Jeder las abwechselnd einen Satz aus seinem Buch dem anderen vor, und die Sätze fügten sich gut zusammen." Die „exquisite Leiche“ nannten die Surrealisten die Bildvariante dieser Art der automatischen Mischung.
Während Tucholsky der Manifest schreibende Surrealismus fremd erscheinen mag – Dada zu leugnen, war er es sicherlich nicht –, er schloss sich sicherlich der Sicht der Surrealisten von tödlich trivialer Fiktion an. Nein, wahrscheinlich kommt Tucholsky mit dem Flickenteppich aus kompliziert zusammengesetzten Bildern und Texten in Tucholskys und Heartfields Buch am besten zur Geltung. Die in Gripsholmsbrunnen 1929 erfüllte Vorahnung des kompakten Missverständnisses des Buches stieß später in diesem Jahr natürlich bei den Nazis, aber auch bei Sozialisten verschiedener Couleur, Kommunisten und sogar Juden (obwohl er selbst väterlicherseits war jüdisch geboren) endete wahrscheinlich nie in seinem Kopf. Danach müssen für Tucholsky die Ereignisse von 1933 ein Versagen an allen Fronten bestätigt und ihn an der Autorschaft – und an seinem, „unserem“ oder „dem anderen“ Deutschland – verzweifeln lassen.
Huss' abschließende Beschreibung von Tucholskys, laut Huss' Freud'scher, psychologisierenden Projektionen des angeblichen sozialen Sadismus, "Lust kombiniert mit Blutlust", sowie von Tucholskys eigener Erklärung für den Nazismus und Huss' für Tucholskys Frauenfeindlichkeit, ist eine traurige Lektüre. Es geht um ihn, der, wie viele linksintellektuelle Männer dieser Zeit laut Klaus Theweleit, die Frau als das „Loch [das] die einzige Vorahnung des Paradieses hier auf Erden ist“ (Tucholsky zitiert in „Mansfantasier“) bezeichnet – Theweleit, dessen dadaistische Kultur, Mythos und gesellschaftskritische Text- und Bildmontage den Stil von "Deutschland, Deutschland über alles" gut hinbekommen.
ein Dasein auf dem Grund des Daseinsbrunnens erstehen.“ Tucholskys spätere Meinungsbildung lässt sich in seinem Briefwechsel nachlesen. Aus dem Nein-Sagen wird eine Anti-Anti-Haltung: Anti-Anti-Bolschewik, Anti-Antisemit. (Siehe „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933–1945“, Band 5, 1980). Jetzt erreicht er die Spitze seiner aphoristischen „Ausdruckstreppe“: sprechen, schreiben, schweigen. Sie drückt starken Unmut und Verbitterung aus: Kerkerhaft muss Schweden einen Brunnen der Existenz bedeutet haben
Makus Hu
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