Das Schwalbenbuch

Zum Andenken an den Dichter Ernst Toller - Aus: Das Schwalbenbuch
In meiner Zelle nisteten im Jahre 1922 zwei Schwalben

Festungsgefängnis Niederschönfeld
Gewachsen 1922 * Geschrieben 1923

Ein Freund starb in der Nacht.
Allein.
Die Gitter hielten Totenwacht.
Bald kommt der Herbst.
Es brennt, es brennt ein tiefes Weh.
Verlassenheit.


O dumpfer Sang unendlicher Monotonie!
O ewiges Einerlei farblos zerrinnender Tage!
Immer
Wird ein Tag sein
Wie der letzte,
Wie der nächste,
Immer.


Zeit ist ein grauer Nebel. Der setzt sich in die Poren Deiner unendlichen Sehnsucht.


Das Stückchen blauer Himmel ist gespießt von rostigen Eisenstäben,
Die aus dem Gitterloch Deiner Zelle aufbrachen,
Auf Dich zuwanderten
Zu
Wanderten
Zu
Wanderten. . .
Erst wehrtest Du Dich,
Aber die Gitterstäbe waren stärker als Du.
Nun wachsen sie in Deinen Augen,
Und wohin Du blickst,
Überall
Überall siehst Du Gitterstäbe.
Noch das Kind; das im fernen, ach so fernen lupinenblühenden Feld spielt,
Ist gezwängt in die Gitterstäbe Deiner Augen.
Oh -


Deine Nächte, Deine Traumnächte verzweifelte Harlekinaden.
* * *
Kalt wurde das Buch in meiner Hand,
So kalt, so kalt.
Die schwarzen Lettern schwarze Berge, die zu wandern begannen im Geäder meines
Herzens.
Die raschelnden Blätter Schneefelder am Nordpol endloser Ohnmacht.

Ich friere.
Die Welt gerinnt.
Es muss schön sein einzuschlafen jetzt,
Kristall zu werden im zeitlosen Eismeer des Schweigens.
Genosse Tod.
Genosse, Genosse. . .


Zirizi Zirizi Zirizi
Zizizi
Urrr


Daß man, nahe der dunklen Schwelle,
Solche Melodie vernimmt, so irdisches Jubels, so irdischer Klage trunken. . .
Träume, meine Seele, träume,
Lerne träumen den Traum der Ewigkeit.


Zirizi Zirizi Zirizi
Zizizi
Urrr
* * *
Über mir über mir
Auf dem Holzrahmen des halbgeöffneten Gitterfensters,
der in meine Zelle sich neigt in erstarrter
Steife, so als ob es sich betrunken hätte
und im Torkeln gebannt ward von einem
hypnotischen Blick,
Sitzt
Ein
Schwalbenpärchen.
Sitzt,
Wiegt sich! wiegt sich!
Tanzt! tanzt! tanzt!
* * *
Tanze meine atmende Brust,
Tanzet Ihr wunden geketteten Augen.
Tanzet! Tanzet!
Nur im Tanze brecht Ihr die Fessel,
Nur im Tanze umrauscht Ihr die Sterne,
Nur im Tanze ruht Ihr im Göttlichen,
Tanzet! Tanzet!

Im Tanze träumt das heilige Lied der Welt.
Von den Ufern des Senegal, vom See Omandaba
Kommt Ihr, meine Schwalben,
Von Afrikas heiliger Landschaft.
Was trieb Euch zum kalten April des kalten Deutschland?
Auf den griechischen Inseln habt Ihr gerastet,
Sangen nicht heitere Kinder Euch heiteren Gruß?
Warum nicht bautet Ihr Tempel in des Archipelagos
Ehrwürdigen Locken?


Zu welchem Schicksal kamet Ihr?


O unser Frühling
Ist nicht mehr Hölderlins Frühling,
Deutschlands Frühling ward wie sein Winter,
Frostig und trübe
Und bar der wärmenden
Liebe.


Den Dichtern gleicht Ihr, meine Schwalben.


Leidend am Menschen, lieben sie ihn mit nie erlösender Inbrunst,
Sie, die den Sternen, den Steinen, den Stürmen tiefer verbrüdert sind als jeglicher Menschheit.


Den Dichtern gleicht Ihr, meine Schwalben.
Ernst Toller (geboren am 1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York). Schriftsteller, Dramatiker. Als zeitweiliger Vorsitzender der bayerischen USPD und Protagonist der kurzlebigen Münchner Räterepublik wurde er nach deren Niederschlagung im Juni 1919 verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Er entging mit dem einen Monat später gefällten Urteil der drohenden Todesstrafe und wurde zu fünf Jahren Festungshaft im Gefängnis Niederschönfeld verurteilt. Dort schrieb er unter anderem "Das Schwalbenbuch".
Bereits während seiner Haft und mehr noch danach wurde er vor allem mit seinen Dramen als einer der maßgeblichen Vertreter des literarischen Expressionismus in der Weimarer Republik bekannt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich wurde Toller aufgrund seiner jüdischen Herkunft und politischen Haltung formell aus Deutschland ausgebürgert. 1933 emigrierte er zunächst in die Schweiz. Seine Werke gehörten zur Liste der im Mai 1933 „verbrannten Bücher“.

1937 emigrierte er in die USA, wo er sich 1939 das Leben nahm.

„Demgegenüber gestehe ich, daß Tollers Gedichtreihe `Das Schwalbenbuch` mich immer wieder erschüttert hat, daß ich sie für ein Juwel deutscher Lyrik halte, und wenn ich mich frage, warum, dann vielleicht deshalb, weil diese Verse, fern den Schulen, tief genug für den Anspruchsvollen, schlicht genug für die Schlichten, menschenhaft trotz der vollkommenen Form, dichterisch trotz (oder wegen?) des politischen Hintergrundes, ein in jeglicher Dimension Reifes und, vertraut mit allen Verwicklungen, auf neue Art Einfaches sind.“

Kurt Hiller (1962)

Reacties

Populaire posts van deze blog

Open brief aan mijn oudste dochter...

Vraag me niet hoe ik altijd lach

LIVE - Sergey Lazarev - You Are The Only One (Russia) at the Grand Final