Das fremde Lächeln

Mich hält ein leises Lächeln gebannt.
Es hing
ganz licht und lose am Lippenrand
einer schönen Frau, die vorüberging.
Die fremde Frau war schön und schlank,
und fühlte ich gleich, es zielte ihr Gang
in mein Leben.
Und dies Lächeln, das ich in Glut und Scham
von ihren zartblassen Lippen nahm,
hat mir ein Schicksal gegeben.
Wie ist dies alles so wundersam,
das Lächeln, die Frau und mein sehnender Traum
versponnen zu törichten Tagen.
Mein Herz verirrt sich in Frage und Gram,
woher dieses seltsame Lächeln kam,
und weiß ich doch kaum,
wieso mir das heimliche Wunder geschehn,
dass ich, erglutend in Glück und Scham,
ein Lächeln aus fremdem Leben nahm
und in das meine getragen.
Ich fühle nur: seit
ich das Lächeln der leisen Lippen getrunken,
ist die Ahnung einer Unendlichkeit
in mein Leben gesunken.
Meine Nächte leuchten nun still und lau
wie ein Sternengezelt
in beruhigtem Blau.
Und der zarte Traumglanz, der sie erhellt,
ist das Lächeln der Frau,
der viellieben Frau,
der schönen, an der ich vorüberging,
der fremden, von der ich ein Schicksal empfing.
Stefan Zweig (1881–1942)

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