Der Mantel des Sterndeuters


Einmal, mein Kind wirst du mich fragen, warum an deinem Geburtstag, mitten im Winter, immer ein Mandelzweig blüht ....
Kaum 20-jährig, hatte ich Klaus geheiratet, einen ehrgeizigen jungen Mann, ständig am Puls der Zeit. Mir gefiel sein Auftreten. Er gab mir Selbstbewusstsein und verkörperte die Kraft, die ich in mir nicht finden konnte. Manchmal, wenn ich leise “aber” sagte, fuhr er mir unwillig durchs Haar und sagte: “Träum nicht so viel, wir leben in einer Zeit, wo Träume nicht am Platz sind. Wir müssen handeln, um vorwärts zu kommen.”
Solange ich denken konnte, hatten Rosenbaums neben uns gewohnt. Wenn ich mir als Kind die Knie blutig geschürft hatte, nahm Mama mich an der Hand und ging zu Doktor Rosenbaum. Seit letzter Nacht waren Rosenbaums verschwunden. “Was haben diese Leute denn verbrochen?” fragte ich Klaus. “Sie sind Juden, also werden sie auch etwas angestellt haben, umsonst sind sie sicher nicht abgeholt worden.” Ich versuchte ein klärendes Gespräch mit ihm. Es endete in einem wütenden Streit. Ich packte meine Sachen und zog zu meinen Eltern. Klaus drohte mit Rache.
Meine alten Eltern waren heimliche Gegner der Nazis und versuchten im Verborgenen einigen Juden zu helfen. Da sie sehr abgelegen wohnten, gelang es ihnen eine Zeitlang, einigen Verfolgten Unterschlupf zu gewähren. Die klare Haltung meiner Eltern half mir, etwas Hoffnung zu schöpfen und an die Zukunft zu glauben, trotz des schrecklichen Krieges.
Eines Tages bekam ich die Nachricht, daß Klaus wegen einer Verletzung Fronturlaub bekam, und ich ging in unsere gemeinsame Wohnung zurück. Klaus erholte sich rasch, kehrte zu seiner Kompanie zurück und ich stellte mit Schrecken fest, daß ich schwanger war. Sofort wollte ich zu meinen Eltern zurück und fand ein unbeschreibliches Chaos vor. Die Fenster und Türen waren zerstört, das Haus geplündert, von meinen Eltern fehlte jede Spur. Entsetzt erzählten mir Freunde aus dem Nachbardorf, daß jemand aus unserem engsten Verwandtenkreis meine Eltern verraten haben musste. Da erinnerte ich mich an die Worte, die Klaus mir bei unserem letzten Streit nachgerufen hatte: “Alle, die Juden verstecken, gehören ebenfalls nach Auschwitz.”
Hier konnte ich nicht bleiben und so machte ich mich zu Fuß mit wertvollem alten Familienschmuck auf den mühsamen Weg Richtung Westen. Manchmal hatte ich Glück und fand Unterkunft und Arbeit auf großen Bauernhöfen. Die Schwangerschaft machte mir zunehmend Mühe. Auf einem Weg durch ein riesiges Waldgebiet entdeckte ich an einem Abend ein altes Bienenhaus, das offensichtlich seit langem nicht mehr genutzt wurde. Zaghaft öffnete ich die Tür. Erschrocken blickte mich eine junge Frau an. Als sie sah, wie durchnässt meine Kleider waren und wie ich vor Kälte zitterte, streckte sie mir die Hand entgegen und sagte: “Ich heiße Milena.” Dann half sie mir aus den nassen Sachen und hüllte mich in eine Decke. Jetzt erst entdeckte ich, daß in der Ecke, nahe dem Ofen ein Säugling lag. Milena gab mir warmen Tee und zeigte mir einen Platz, wo ich schlafen konnte. Sie erzählte mir noch, daß auch sie mit ihrem Mann auf der Flucht wären, seit der Arbeitsplatz ihres Mann in der Klinik als Jude nicht mehr sicher war und ihr Baby hier vor drei Wochen geboren wurde..
Als ich nach langem schweren Schlaf erwachte, hatte ich hohes Fieber. Inzwischen war Milenas Mann Ruben zurückgekommen und legte mir kalte Tücher auf die Stirn. Die beiden pflegten mich liebevoll. Trotz dieser schrecklichen Zeit und meiner schlechten inneren und äußeren Verfassung erlebte ich in diesen Tagen wirkliche Freundschaft und wahre Menschlichkeit.
In einer Nacht wagte es Ruben, für mich aus der Stadt ein stärkeres Medikament zu besorgen, obwohl sie wussten, welcher Gefahr sie sich damit aussetzten.
Meine Schmerzen wurden immer heftiger, und bevor Ruben zurückkam, wurde in dieser Nacht meine kleine Tochter geboren. Sie war als Frühgeburt viel zu klein. Als Ruben am Morgen zurückkam und das Kind und mich untersuchte, strich er mir liebevoll über das Haar. Das winzige Körperchen atmete nicht mehr. Milena und Ruben legten es schweigend neben mich. Dieses Kind war schon vor seiner Geburt zum Tode verurteilt, weil es nicht in Liebe erwartet worden war.
Es war noch nicht hell, als wild an die Tür geschlagen wurde. Uns allen war klar, was das bedeutete. Milena drängte sich mit dem Kind dicht an Ruben. Er legte beide Arme um sie, und sie sagten ein letztes wortloses Ja zueinander. Das Poltern wurde stärker, und ich fürchtete, die Tür würde jeden Moment eingedrückt. Da knöpfte Milena mir in aller Eile die Bluse auf, legte ihr kleines Söhnchen an meine Brust und folgte in großer Verzweiflung Ruben, der gerade die Türe öffnete.
“Da sind sie ja, die lange Gesuchten”, spottete die höhnische Stimme eines SS-Mannes. Zwei andere Gestapomänner drängten sich durch die Tür. Dann herrschte mich einer von ihnen an: “Wer sind Sie und was treiben Sie hier?” - “Ich wurde auf der Durchreise krank und konnte nicht weiter mit meinem Kind”, stammelte ich. Dann kramte ich meinen Ausweis hervor und hielt ihn dem SS-Mann hin. “Wieso gehen Sie nicht ins Dorf, sondern verstecken sich hier bei diesem Gesindel?”, fuhr er mich an. “Sie konnte nicht wissen, daß wir Juden sind”, unterbrach ihn Ruben und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich und Milena. Ich drückte das Kind noch mehr an meine Brust, als wäre es der Strohhalm, der mich noch am Leben hielt. In diesem Augenblick wurden Milena und Ruben zur Tür hinausgedrängt. Noch einmal sahen sie auf ihren Sohn. Ich konnte nichts anderes tun als laut und deutlich “Ja” sagen. Ich hoffte von Herzen, daß sie verstanden hatten, daß ich mit diesem Versprechen abgelegt hatte, dieses Kind aus ganzem Herzen zu lieben. - Ich saß wie benommen da, als zwei Schüsse die Stille zerrissen. Das Kind, das immer noch an meiner Brust trank, zuckte vor Schrecken zusammen und begann zu weinen. In diesem Moment hatte es seine Eltern verloren.
Ich brauchte noch einige Tage, um mir bewusst zu machen, was geschehen war. Was den Todesschergen nicht zum Opfer gefallen war, war das Geheimnis der Liebe und des Lebens. Ich spürte zum ersten Mal im Leben einen Sinn. Ich hatte eine Botschaft an dieses Kind weiterzugeben. Eine nie gekannte Kraft entwickelte sich in mir. Mit Hilfe eines Bauern, der mich in seinem Fuhrwerk mitnahm, erreichte ich das nächste Kloster.
Es war um die Weihnachtszeit. Die junge Nonne, die mir die Pforte öffnete, sah nur das Kind in meinem Arm. Es muß sie sehr an das Jesuskind erinnert haben, denn sie hieß mich freundlich willkommen. Am Weihnachtsabend kam ein alter Mönch, um die Messe zu halten. Als er mich fragte: “wie heißt Ihr Kind”, antwortete ich: “Ruben.” Eine Nonne sah mich verständnislos an. “Wieso geben Sie Ihrem Kind denn nicht den Namen eines Heiligen?” fragte sie. “Wenn Sie mit heilig einen Menschen meinen, entgegnete ich, der sein Leben hingibt für andere, dessen Liebe größer ist als der Hass, dann kann ich keine heiligeren Namen als Milena und Ruben finden”. Und ich erzählte ihr die Geschichte, denn der Krieg und das Todesregime Hitlers waren zu Ende.
(Autor unbekannt) aus “Der Mantel des Sterndeuters”

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