Das Herz in der Borke
Das Herz in der Borke
Es war ein warmer früher Herbsttag im Jahr 1952. Der 18jährige Forstschüler Hedrik Lenzen hatte sein Notizbuch im Anschlag und überprüfte, wie ihm
vom strengen Forstmeister Riedel aufgetragen wurde, den Zustand der Baumrinde im Revier. Borkenkäfer -und Pilzbefall, alles wurde akribisch dokumentiert. Hendrik kannte schon viele der alten Bäume. Es waren Patienten. Und er war der Arzt. Also gut, noch war er Arzthelfer. Aber, das fühlte er, aus ihm würde ein vorbildlicher und hervorragender Förster werden. Da schimmerte etwas rotgelb zwischen den Stämmen. Hendrik schaute genauer hin und sah einen jungen Mann in einer dieser neumodischen Sportjacken an einem der kapitalsten Revierbäume, einer 250Jahre alten Eiche, hocken und sich an der empfindlichen Borke zu schaffen machen. Mit einem Messer.
Hendrik überraschte ihn in flagranti , von hinten. ,,Junger Mann! Das beschädigen von Forsteigentum ist eine Straftat!" Der Typ sah mit wässrigen blauen Augen zu ihm auf. Hendrik hatte selten ein so wehmütiges, schönes Gesicht gesehen.
Der Ertappte hatte etwas in die Borke geritzt
E+E FÜR IMMER UND EWIG
ERNA WILKE 3.3.1925-
,,Was bedeutet das?"
,,Erna ist meine Verlobte., ich bin Ernst. Ernst Wolters. Die Ärzte haben letzte Woche eine dieser tückischen Krankheiten bei ihr festgestellt. Irgendwas mit dem Blut. Ich glaube es heißt Leukämie. Sie hat nur noch wenige Monate. Unter diesem Baum hat sie meinen Antrag angenommen. Das eine ist ihr Geburtsdatum. Am Tag ihres Todes komme ich wieder hier her und verfollständige das. Und dann gehe ich meinen Weg. Wo immer der auch hinführt."
Hendrik legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. ,,Ich habe großes Mitgefühl. Gehen Sie jetzt zu ihrer Erna. Sie braucht sie. Gott segne sie."
Am heiligen Abend 2022, die Coronakrise hatte die Welt immer noch fest im viralen Griff. Hendrik spazierte wieder zwischen den Bäumen hindurch. Nun aber nicht mehr so leichtfüßig und unbeschwert. Die Artritis und Reumatismus plagten ihn. Sein schlohweißes Haar wehte wie feine Zuckerwatte im Winterwind. Er hatte die Krankheit aller. Man nennt sie das Alter. Nach Sylvester würde er in ein Seniorenheim gehen. Dort die letzten Jahre verbringen. Aber erst wollte er sich von seinen Patienten verabschieden. Er war ein großartiger Förster gewesen. Fast 50 Jahre lang.
Da kam er an die alte Eiche. Sie trotzte nach wie vor Wind und Wetter und würde das auch noch wenn Hendrik längst nicht mehr war.
Er erinnerte sich plötzlich an Erna und Ernst,
beugte sich hinab und schob mit zittriger Hand ein paar welke Blätter zur Seite.
Da stand noch die Innschrift von damals 1952 im Herbst. Sie war noch gut zu lesen.
E+E FÜR IMMER UND EWIG
ERNA WILKE 3.3.1925-
ERNST WOLTERS 5.7.1921-24.12.1952
Der Liebende hatte sich also das Leben genommen.
Schrecklich!
Aber da stand kein Sterbedatum für sie. Und wer hatte seine Daten eingeritzt?
Da kniete an der Borke plötzlich eine junge, einsam und traurig wirkende Frau. Sie strich über die Gravur. ,,Er brauchte es nicht zu verfollständigen."Dann war sie verschwunden.
Hendrik wußte nun, tief in sich, Erna Wilke würde nicht sterben. Sie würde ewig auf Erden wandeln. Ernst Wolters hatte durch seinen Tod einen Weg für sie gefunden. Egal wie diabolisch der auch sein mochte.
Die Inschrift würde bis zum jüngsten Tag unvollendet bleiben.
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