Der große Augenblick

Der große Augenblick

In seinem Käfig saß ein kleiner Vogel und sah mit sehnsüchtigen Augen in den Sonnenschein. Es war ein Singvogel, und es war in einem Kulturstaat – jedenfalls in einem solchen, der sich so nannte.
In blauer Ferne standen blaue Berge.
Hinter den Bergen liegt der Süden, dachte der kleine Vogel. Ich bin nur einmal den Weg dahin geflogen. Dann nicht wieder.
Die fernen Berge erschienen ihm ganz nah. Die Sehnsucht rückte sie so nah vor die Gitterstäbe.
»Sie sind so sehr nah«, sagte der kleine Vogel. »Wenn nur die Gitterstäbe nicht wären! Wenn die Tür sich nur einmal öffnete – ein einziges Mal! Dann käme der große Augenblick, und ich wäre mit ein paar Flügelschlägen hinter den blauen Bergen.«
Die Kraniche zogen. Durch die Herbstluft klang ihr klagender Schrei – klagend und lockend. Es war der Ruf nach dem Süden.
Sie verschwanden hinter den blauen Bergen.
Der kleine Vogel rannte gegen die Gitterstäbe.
Der Winter kam, und der kleine Vogel wurde still. Der Schnee fiel, und die blauen Berge waren grau geworden. Der Weg nach dem Süden lag in Kälte und Nebel.
Es kamen viele Winter und viele Sommer. Es kamen viele Jahre. Die Berge wurden blau und wurden wieder grau. Die Zugvögel kamen vom Süden und zogen nach Süden. Der kleine Vogel hinter dem Gitter wartete auf den großen Augenblick.
Dann kam ein klarer sonniger Herbsttag. Da war die Tür des Käfigs geöffnet. Man hatte sie im Versehen offen gelassen. Mit Willen tun es die Menschen nicht.
Der große Augenblick war da! Der kleine Vogel zitterte vor Freude und Erregung. Vorsichtig und scheu huschte er hinaus und flatterte auf den nächsten Baum. Alles um ihn herum verwirrte ihn. Er war es nicht mehr gewohnt. In blauer Ferne standen blaue Berge.
Aber sie schienen jetzt sehr fern zu sein. Viel zu fern für die Flügel, die sich jahrelang nicht mehr geregt hatten hinter den Gitterstäben. Doch es mußte sein! Der große Augenblick war da!
Der kleine Vogel nahm all seinen Mut und seine Kraft zusammen und breitete die Flügel weit, weit aus – zum Flug nach dem Süden, hinter die blauen Berge. Aber er kam nicht weiter als bis zum nächsten Ast. Waren die Flügel verkümmert in den langen Jahren, oder war es etwas anderes, das in ihm verkümmert war? Er wußte es selbst nicht. Die blauen Berge waren fern, viel, viel zu fern für ihn. Da flatterte er still in den Käfig zurück. Die Kraniche zogen. Durch die Herbstluft klang ihr klagender Schrei – klagend und lockend. Es war der Ruf nach dem Süden Sie verschwanden hinter den blauen Bergen.
Da senkte der kleine Vogel den Kopf und barg ihn unter dem Flügel.
Der große Augenblick war vorüber.

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