Um acht erwacht Thomas Mann

Um acht erwacht Thomas Mann. Nicht etwa, weil er geweckt wird oder einen Wecker gestellt hat. Nein, er erwacht einfach immer um acht. Als er einmal um halb acht aufwacht, blieb er die halbe Stunde liegen, irritiert, wie ihm das passiert sein konnte. Es sollte nie wieder vorkommen.
Sein Körper gehorchte ihm. Wir wissen noch immer sehr wenig aus der Kältekammer der Ehe zwischen Thomas Mann und Katia Pringsheim.
Aber es ist auffällig, dass Katia, nachdem ihr Ehemann den "Tod in Venedig" im Jahre 1912 abgeschlossen hat, fast anderthalb Jahre ununterbrochen zu verschiedenen Kuraufenthalten in der Schweiz ist, um ihre Lungenkrankheit zu kurieren.
Was ihr den Atem verschlagen hatte, war das versteckte homosexuelle Bekenntnis ihres Mannes. Natürlich wusste sie mehr als jeder andere, dass jener Gustav von Aschenbach ein Selbstportrait ihres Gatten war - und dass es beim gemeinsamen Urlaub in Venedig 1911, im Grand Hotel des Bains war, dass er den Blick nicht abwenden konnte von jenem hübschen Jungen Tadzio, den er im Buch als "vollkommen schön" beschreibt, "bleich und anmutig verschlossen". Katia hatte sich gewundert über ihren Mann, wie er dem Knaben hinterherstierte, doch nun las sie die Novelle über den alternden Künstler, der hemmungslos seiner Knabenliebe folgte, den Jungen beobachtete, wenn er am Strand war und wenn er aß, "vormännlich hold und herb".
Aber Thomas Mann hat jenen Gustav von Aschenbach stellvertretend für sich seinen Willen ausleben und seinen Tod finden lassen. Das "strenge Eheglück" muss von Katia und Thomas in dem Jahr der permanenten Sanatoriumsaufenthalte schmerzhaft fallengelassen werden. Aber sie bleiben zusammen, bewahren Haltung und bauen ein Haus.
Um Punkt halb neun treffen sich Katia und Thomas Mann an jedem Tag ihrer Ehe, um gemeinsam zu frühstücken. Egal ob in der Mauerkircherstraße oder im Landhaus in Bad Tölz oder später in der Poschingerstraße. Um Schlag 9 Uhr beginnt der Großschriftsteller zu arbeiten. Seine vier Kinder erinnerten sich ein Leben lang an die Art und Weise, wie ihr Vater um Punkt 9 Uhr die Tür schloss - egal ob in der Wohnung in der Mauerkircherstraße in München, im Landhaus in Bad Tölz oder später in der Poschingerstraße.
Es war ein sehr bestimmtes, sehr endgültiges Abschließen der Tür. Die Welt sollte draußen bleiben.
Dann nahm er seinen Manuskriptblock zur Hand und legte los. Wie eine Maschine.
"Unser täglich Blatt gib uns heute", sagte er einmal zu seinem Freund Bertram.
"Ich brauche weißes, vollkommen glattes Papier, flüssige Tinte und eine neue, leichtgleitende Feder. Damit es kein Durcheinander gibt, lege ich ein Linienblatt unter. Ich kann überall arbeiten, nur muss ich ein Dach über dem Kopf haben. Der freie Himmel ist gut zum unverbindlichen Träumen und Entwerfen: die genaue Arbeit verlangt den Schutz einer Zimmerdecke."
Genau drei Stunden später, Schlag 12 Uhr, legt er den Griffel nieder. Und rasiert sich ausgiebig. Er hat es ausprobiert. Wenn er sich schon morgens rasiert, dann kommen schon zum Abendessen wieder die ersten Bartstoppeln zum Vorschein.
Seit er sich erst nach 12 Uhr rasiert, sind die Wangen auch beim Abendessen noch glatt. Nach der Rasur und einigen Spritzern Rasierwasser macht Thomas Mann seinen Spaziergang. Dann gibt es Mittagessen mit den Kindern, anschließend gönnt sich Thomas Mann eine Zigarre in der Sofaecke, liest etwas, spricht etwas. Spielt sogar manchmal mit seinen Kindern. Erika ist sieben, Klaus sechs, Golo vier und Monika drei Jahre alt. Aber dann werden sie alle wieder der Kinderfrau anvertraut, denn Thomas Mann will sich hinlegen. Er schläft immer von vier bis fünf. Natürlich braucht er auch da keinen Wecker. Um 5 Uhr gibt es Tee, danach widmet er sich dem, was er "Nebenaufgaben" nannte, man kann ihn anrufen und auch besuchen, er ist sozusagen: da. Um 19 Uhr gibt es Abendessen. Weltliteratur ist also nur eine Frage der genauen Planung. In diesem Frühjahr erzählt er seinen Kindern das erste Mal von seinem neuen Buch, das er schreiben will,
"Der Zauberberg" soll es heißen. Und es soll lustig werden. Darauf erfindet Erika für ihren Vater den Namen " Zauberer".
Dabei bleibt es, sein Leben lang. Briefe an seine Kinder unterschrieb er nur noch so und manchmal, ganz vertraulich, nur mit "Z".
So hatte er scheinbar alles im Griff mit seinem Zauberstab, der sein Füller war. Von A wie Aschenbach bis Z wie Zauberer.
Florian Illies "1913"

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