In letzter Zeit
In letzter Zeit ( vorallem in fremder Umgebung,
z. B. nicht in Zürich ) oft die plötzliche Erinnerung an Menschen, unverlangt. Fakten;
sie fallen mir ohne Anlass ein. Was ich in meinem Leben alles nicht wahrgenommen habe. Wie brutal ich in bestimmten Situationen war, wie naiv und unbewusst, ebenso wahnwitzig in der Selbstgerechtigkeit wie in der Ungerechtigkeit gegen mich selbst, unwissend ohne auch nur eine Ahnung davon, wie unwissend ich lebte, wie blind, wie übermütig, wie vorsichtig, wie blöd, wie begabt. Jetzt Memoiren schreiben ( nicht zur Veröffentlichung ) wäre das Abenteuer, das noch möglich ist; es würde mich packen und umdrehen, glaube ich. Ich hätte ein Leben hinter mir, eines, das mich noch einmal interessiert, weil ich es nicht kenne. Es hiesse vorerst sich selbst verlieren. Wo die Gegenwart nicht mehr viel auslöst an Gefühl, plötzlich kommt es aus dem Vergangenen - Vergessenen: Gefühl, das sich ausdrücken möchte. So vielerlei ist gelebt worden und verschüttet, indem man weiterlebte. Ich müsste jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, es eilt, es ist aufregend. Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Es kommen auch Kronen zum Vorschein, die man nie getragen hat, unter viel Misere durch Dummheit und Feigheit und Eitelkeit auch Kronen, jetzt nicht mehr auf den Kopf zu setzen.
MAX FRISCH
* 15. MAI 1911
Aus dem Berliner Journal
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
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